Im Schatten des Jahres: Ein Herbstkind über die dunkle Hälfte
- Nicole

- 12. Sept.
- 3 Min. Lesezeit
Die Schönheit der dunklen Hälfte des Jahres

Die meisten Menschen schreiben über das Rad des Jahres wie über ein Karussell voller Feste – die sprudelnde Fruchtbarkeit von Beltane, die Fülle des Mittsommers, die goldene Ernte von Lughnasadh. Alles Freude, alles Licht, alles „schaut, wie sehr wir gewachsen sind“. Und ja, dieser Teil des Zyklus ist überwältigend. Aber für mich ist es genauso magisch, wenn das Jahr in seine Schattenseiten übergeht.
Von der Herbst-Tagundnachtgleiche bis Imbolc gehen wir einen anderen Weg: den des Abstiegs. Die Ernte ist eingebracht, die Tage werden kürzer, das Leben zieht sich nach innen zurück. Es geht nicht um Wachstum, sondern um Loslassen. Es ist die Zeit des Abschieds, des Ehrens von Enden, des Blicks in das, was sich im Schatten verbirgt, und des Sitzens im fruchtbaren Nichts, bevor etwas Neues zu rühren wagt. Weniger Feuerwerk, mehr Kerzenschein. Weniger Performance, mehr rohe Wahrheit.
Ich wurde zur Zeit der Tagundnachtgleiche geboren — diesem flüchtigen, unmöglichen Moment der Balance zwischen Licht und Dunkel. Vielleicht ist das der Grund, warum ich mich in Schwellenräumen, in liminalen Zonen, in denen Gegensätze aufeinandertreffen und ineinander fliessen, so zu Hause fühle. Für mich waren Enden und Anfänge nie Gegensätze, sondern die gleiche Wahrheit, nur von unterschiedlichen Seiten betrachtet. Vielleicht erklärt das auch meine Leidenschaft, Brücken zu bauen, Räume für unterschiedliche Perspektiven zu halten und die Welt nicht in binären Kategorien, sondern als Kontinuum zu sehen. Mein Geburtstag war immer eine Erinnerung daran, dass Ganzheit aus Balance entsteht. Weder Licht noch Dunkel sind „besser“. Beides ist notwendig, beides heilig.
Alles Leben beginnt in der Dunkelheit. Ein Samen, der in die Erde gedrückt wird. Ein Baby, das im Mutterleib wächst. Der Zyklus des Mondes, der im Schatten beginnt. Dunkelheit ist keine Abwesenheit, sondern Ursprung — der Ort, an dem Möglichkeiten keimen, bevor sie nach Licht greifen.
Und doch wirkt dieser Rhythmus im modernen Leben fast wie Rebellion. Die kapitalistische Kultur verlangt, dass wir weitermachen, produzieren, glänzen. Ruhe wird als Faulheit bewertet, Trauer als Schwäche, Schatten als Gefahr. Aber das Rad sagt etwas anderes. Die Natur entschuldigt sich nicht dafür, nackt zu sein. Bäume klammern sich nicht an ihre Blätter aus Angst vor Produktivitätsverlust. Die Erde selbst ehrt Zyklen, nicht Tabellen. Der dunklen Hälfte des Jahres zu folgen bedeutet, unsere eigene zyklische Menschlichkeit zurückzuerobern — zu sagen: Ich bin keine Maschine.
Wie lebt man das also in der Stadt — wo Neonlichter die Dämmerung töten und alles mit der
Geschwindigkeit des „Jetzt“ rast? Für mich beginnt es mit kleinen, hartnäckigen Akten der Rebellion:
Abendliches Journaling, nicht um produktiv zu sein, sondern um zu fragen: Was muss heute in mir sterben?
Ein Streichholz entzünden und Kerzen anzünden, nicht für Gemütlichkeit, sondern um zu sagen: Willkommen, Dunkelheit, ich sehe dich.
Einen Ahnenaltar im Oktober errichten, Namen flüstern, Tee für die Verstorbenen einschenken, Erinnerung zur Medizin machen.
Zettel am Samhain verbrennen, die Flammen beobachten, wie sie das verschlingen, was ich nicht länger trage.
Langsame Winterabende beanspruchen, nicht als Faulheit, sondern als heilige Rebellion in einer Kultur, die dem Hustle verfallen ist.
Das sind einfache Handlungen, aber sie weben mich zurück in den Rhythmus. Sie erinnern mich daran, dass diese Zeit kein leerer Raum ist, den man überstehen muss, bis die Sonne zurückkehrt, sondern ein lebendiges Geheimnis, in das man eintreten kann. Dunkelheit muss nicht gefürchtet werden. Sie ist nicht das Gegenteil von Licht, sondern sein Partner — die andere Seite der Ganzheit. Ohne Nacht hätte die Morgendämmerung keine Bedeutung. Ohne Senkung kein Aufstieg. Im Dunkeln keimen Samen, Träume brauen sich zusammen, Ahnen flüstern.
Die dunkle Hälfte des Jahres lehrt uns, dass wir zum Wachsen zuerst hinabsteigen müssen. Um ganz zu sein, brauchen wir sowohl Licht als auch Dunkel. Das ist die stille Rebellion des Rads: Es erinnert uns daran, dass wir nicht für endlosen Sommer, endlosen Grind gebaut sind. Wir sind für Zyklen gebaut — für Tod und Wiedergeburt, Schatten und Flamme. Und die Magie liegt nicht darin, das eine dem anderen vorzuziehen, sondern darin, den Rhythmus beider mutig zu leben.









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