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Samhain & die Ahnen – Wenn der Schleier dünn wird

Es gibt Geschichten, die beginnen mit einem Ende. Ich war etwa drei Jahre alt, als ich zum ersten Mal spürte, dass etwas verschwindet, ohne wirklich fort zu sein. Mein Grossonkel starb plötzlich – der Bruder meines Grossvaters. Ich erinnere mich, wie mein Grossvater uns die Nachricht überbrachte. Ich erinnere mich aber auch an den Geruch von Herbstlaub, an die Schwere in den Stimmen der Erwachsenen, und an das eigenartige Gefühl, dass die Welt gleichzeitig stillstand und weiterging. Vielleicht war das mein erster Blick auf die Schwelle – auf jene feine Linie zwischen hier und dort. Seitdem ist der Tod für mich kein Fremder, sondern ein stiller Begleiter.


Samhain ist die Zeit, in der dieser Begleiter näher rückt. Die Tage werden kürzer, die Luft wird klarer, und irgendwo zwischen dem Rascheln der Blätter und dem Nebel über den Strassen öffnet sich ein Spalt – der Schleier zwischen den Welten wird dünn - meine Träume werden intensiver und sind mehr Geprägt von den Besuchen meiner Ahnen. Unsere Vorfahr:innen, die, die vor uns gegangen sind, kommen uns ganz besonders in dieser Zeit ein Stück entgegen. Nicht als Geister aus Gruselfilmen, sondern als Erinnerung, als Wärme, als Ahnung davon, dass unsere Wurzeln tiefer reichen, als wir denken, oder eben als Träume.


Der Tod als Lehrmeister

In unserer Kultur wird Tod oft weggesperrt, verpackt in sterile Rituale oder verdrängt durch Geschäftigkeit. Aber Samhain lädt uns ein, hinzusehen. Es erinnert uns daran, dass Vergänglichkeit keine Katastrophe ist, sondern Teil des Rhythmus. Alles, was lebt, wird einmal sterben – und genau darin liegt Sinn. Wenn wir lernen, den Tod anzunehmen, verlieren wir ein Stück der Angst vor dem Leben.


Für mich bedeutet diese Zeit, die Verbindung zu pflegen – nicht nur zu meinen Ahn:innen, sondern auch zu den Teilen von mir selbst, die ich verloren habe, oder vor denen ich mich fürchte sie richtig anzuschauen. Alte Versionen, frühere Träume, abgeworfene Häute. Auch sie sind Teil meiner Geschichte.


Der Tod als Neubeginn – Vom Loslassen und Wiedergebären

Samhain* erinnert uns daran, dass jedes Ende auch ein Anfang ist. In vielen spirituellen Traditionen – und auch sehr schön zu sehen in der Symbolik des Tarot – steht die Karte „Der Tod“ nicht für das endgültige Aus, sondern für Transformation. Etwas Altes stirbt, damit Raum für Neues entstehen kann.


Loslassen ist kein Scheitern, sondern eine Form von Vertrauen: Vertrauen darauf, dass der Winter nicht ewig dauert, dass nach der Dunkelheit wieder Licht kommt. Es ist ein bewusster Schritt ins Unbekannte, ein symbolisches Häuten.


Wenn wir lernen, Abschied zu nehmen – von alten Geschichten, Erwartungen oder Identitäten – dann öffnen wir uns für das, was wir noch werden können. Samhain lädt uns genau dazu ein: das Sterben nicht zu fürchten, sondern es als Teil des Lebens zu ehren. Denn wahre Erneuerung geschieht nie im Licht allein, sondern dort, wo wir den Mut haben, in die Dunkelheit zu blicken.


Rituale für die Ahnen

Und so nutze ich die Zeit um Samhain für diverse Rituale Rund ums Thema Ahnen. Ich stelle zum Beispiel jedes Jahr im Oktober einen kleinen Altar auf. Ein Teelicht, eine alte Fotografie, manchmal eine Tasse Tee. Ich flüstere Namen. Ich erinnere mich an Stimmen, an Lachen, an Gerüche von Sonntagsküchen und ein besonderes Parfum.


Manchmal koche ich ein Familienrezept – nichts Aufwändiges, nur etwas, das nach Zuhause schmeckt. Dann stelle ich einen Teller mit einem kleinen Teil davon auf den Altar. Ein symbolisches Mahl – ein Gespräch über Zeitgrenzen hinweg.


Ein Ritual, das mir besonders am Herzen liegt, ist das „stumme Abendessen“ (engl. dumb supper) – ein uralter Brauch, bei dem in völliger Stille mit den Ahnen gespeist wird. Kein Wort wird gesprochen, nur Kerzenlicht und Atemzüge füllen den Raum. Jede Bewegung wird bewusst. Es ist, als würde man den Ahnen einen Platz am Tisch anbieten und ihnen zuhören, ohne dass jemand etwas sagt. Diese Stille ist dicht, heilig – sie fühlt sich an wie ein geöffneter Raum zwischen den Welten.


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Ich liebe auch die Tradition des Verkleidens und Maskentragens zu dieser Jahreszeit. Nur wenige wissen, dass das Tragen einer Maske einst kein Spiel war, sondern ein spiritueller Akt. Indem man die Maske einer Gottheit, eines Geistes oder einer Ahnenfigur anlegte, verband man sich mit deren Energie – man wurde für einen Moment zum Gefäss, durch das sie sprechen konnte. Für mich ist das ein tiefes Sinnbild: Wenn wir uns verkleiden, tauchen wir in andere Aspekte unseres Selbst ein. Wir erinnern uns daran, dass Identität fliessend ist – und dass wir, genau wie unsere Ahnen, viele Gesichter tragen.


Ahnenarbeit im Grossstadtraum

Man braucht übrigens auch keinen alten Landsitz und keine mystische Waldlichtung, um den Ahnen nahe zu sein. Selbst in einer Stadtwohnung, umgeben von Beton, Sirenen und Neonlicht, lässt sich Raum schaffen. Ein Altar kann eine Fensterbank sein. Eine Kerze kann mitten in der Hektik ein Portal öffnen. Ein paar Minuten Stille am Abend können ausreichen, um den eigenen Stammbaum nicht nur genealogisch, sondern seelisch zu spüren. Ahnenarbeit ist kein Rückwärtsgewandtsein. Sie ist Erinnerung als Widerstand – gegen Entwurzelung, gegen das Vergessen, gegen das Gefühl, allein zu sein.


Weitere Ritualideen zu Samhain


1. Freundschaft mit dem Tod

  • Memento mori in der Stadt: Eine kleine tägliche Erinnerung, dass alles vergänglich ist – z. B. eine Kerze, ein Blatt, ein Foto, ein Sandkorn auf dem Schreibtisch.

  • Herbstspaziergang: Blätter sammeln, bewusst beobachten, wie sie zerfallen – Symbol für Loslassen und Vergänglichkeit.

  • Tagebuch: Ein „Brief an den Tod“ schreiben – was darf gehen, was will ich anerkennen?

  • Ritueller Tee: Jeden Abend einen kleinen Tee für die Verstorbenen auf den Tisch stellen, kurz innehalten, bewusst atmen.


2. Schattenarbeit im Grossstadtleben

  • Schatten-Journal: Jeden Abend 10–15 Minuten notieren: „Was hat mich heute getriggert? Welche Gefühle wollte ich vermeiden?“

  • Konfrontationsritual: Ein kleines Objekt (Stein, Kerze) als Symbol für den Schatten benutzen. Berühren, halten, bewusst anschauen.

  • Spiegelarbeit: Menschen oder Situationen als Spiegel nehmen – bewusst reflektieren, welche ungelösten Themen projiziert werden.

  • Digital Detox als Schattenpause: Abends 1–2 Stunden ohne Social Media, nur mit Stift & Papier, um eigene innere Themen zu spüren.


3. Zyklen von Blut, Erde und Zeit

  • Menstruationsritual: Tagebuch, Kerze, Meditation – bewusst den eigenen Zyklus wahrnehmen und während der Menstruation ganz bewusst Dinge loslasse, die nicht mehr zu dir passen. Eine spirituelle Reinigung sozusagen.

  • Mondritual: Bei Neumond oder Vollmond Wünsche, Loslassen oder Intentionen aufschreiben.

  • Jahreszeitliche Meditation: Übergänge im Kalender markieren (Equinox, Samhain) und bewusst Rückzug einplanen.

  • Urban Reclaim: Die Mittagspause nutzen, um in Stille zu gehen, Natur in der Stadt beobachten – Rückzug im Alltag.


4. Zwischen den Welten – liminale Räume

  • Schwellenritual: Ein kleines Objekt über die Türschwelle tragen als symbolischer Übergang.

  • Pendeln bewusst nutzen: Auf Bahnhöfen, in Aufzügen oder U-Bahnen kurze Visualisierungen oder Atemübungen machen.

  • Ritual bei Lebensübergängen: Neue Wohnung, Job oder Phase: kleine Kerze anzünden, Absicht setzen, Altes loslassen.

  • Equinox-Schwelle: Mit Licht & Dunkelheit spielen – Kerzen am Morgen oder Abend, um Balance zu spüren.


5. Die politische Dimension von Dunkelheit

  • Nacht-Walk: Abendspaziergang als Protest gegen Dauerbeleuchtung, Leistungsgesellschaft, ständige Produktivität.

  • Kerzenritual: Fensterkerzen anzünden als Schutzraum für dich & marginalisierte Stimmen.

  • Schreibritual: Gedanken oder Wut über Ungerechtigkeit in ein Buch schreiben, dann bewusst loslassen.


6. Ahnenarbeit & kollektive Wunden

  • Familienchronik schreiben: Geschichten der Ahnen aufschreiben, auch Trauma anerkennen.

  • Ahnenritual: Kerzen für weibliche Linien, zerbrochene Geschichten, verlorene Stimmen.

  • Community-Ritual: Mit Freund:innen oder Gruppe Ahnenbilder aufstellen, Geschichten teilen, Tee anbieten.

  • Schreib- oder Zeichenritual: Symbole, Namen oder Erinnerungen für kollektive Heilung visualisieren.


7. Die Dunkelheit als Kreativraum

  • Creative Void: 20–30 Minuten bewusst NICHTS tun, nur Stille oder Kerzenlicht – danach Ideen notieren.

  • Dunkelmeditation: 10 Minuten in Stille sitzen, bewusst unsichtbar sein, die Nacht als Kraftquelle spüren. Augen schliessen, Gedanken beobachten, nichts bewerten, Impulse sammeln.

  • Magischer Notizblock: Alles aufschreiben, was aus der Dunkelheit kommt, auch Träume oder Eingebungen.

  • Stille Spaziergänge: Ohne Handy, nur Sinne & Umgebung wahrnehmen – Inspiration aus der Stadt-Dunkelheit.


8. Seelenreisen in der dunklen Zeit

  • Traum- oder Schamanenreise: Trommel, Klangschale, Kerzen, Visualisierung ins Innere.

  • Innere-Teile-Ritual: Fragen stellen wie „Welche Teile von mir brauchen heute Aufmerksamkeit?“ und Antworten schreiben.

  • Traumaltar: Neben dem Bett kleine Symbole, Kristalle, Kerzen – für bewusste Traumarbeit.

  • Stadtwohnung-Portale: Räume mit Kerzen, Duft oder Klang in kleine „andere Welten“ verwandeln, um Reisen nach innen zu erleichtern.


Der Kreis schliesst sich

Wenn Samhain naht, spüre ich, dass die Dunkelheit nicht leer ist. Sie ist voller Stimmen. Voller Geschichten, die durch uns weiterleben. Die Ahnenzeit erinnert mich daran, dass Tod kein Ende ist, sondern Teil des Kreislaufs. Dass jedes Fallen – von Blättern, von Leben, von alten Mustern – Nahrung für Neues wird. Und vielleicht ist das das eigentliche Geschenk dieser Zeit:die Erkenntnis, dass wir alle aus Geschichten bestehen, die älter sind als wir selbst – und dass, solange wir uns erinnern, niemand wirklich geht.



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*Der Begriff Samhain stammt aus dem Altirischen (gesprochen etwa Sow-in oder Sah-win) und bedeutet wörtlich „Ende des Sommers“. In der keltischen Kultur markierte Samhain den Übergang vom hellen zum dunklen Teil des Jahres – also den Beginn des Winters. Es war eine Zeit des Innehaltens, der Ahnenverehrung und des Abschieds vom alten Jahr.


Mit der Christianisierung Europas wurden viele heidnische Feste überlagert oder umgedeutet. Aus Samhain entwickelte sich später das christliche Allerheiligen (All Hallows’ Day) und der Vorabend dazu wurde zu All Hallows’ Eve – woraus schliesslich das moderne Halloween entstand.


Während Halloween heute oft mit Grusel, Kostümen und Süssigkeiten verbunden wird, liegt der Ursprung in Samhain wesentlich tiefer: Es war eine spirituelle Schwellenzeit, in der die Grenze zwischen der Welt der Lebenden und der Toten als besonders durchlässig galt.

Kommentare


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Ich bin Nicole – urban aus Überzeugung, mystisch von Natur aus. Ich liebe schwarze Katzen, guten Chai oder Matcha und Gespräche, die spät am Abend anfangen und mit plötzlichen Erleuchtungen enden. Irgendwo zwischen Excel-Tabellen und Zauberkarten habe ich meine Berufung gefunden: Menschen zu helfen, das Chaos, die Magie und selbst die Montage zu verstehen.

Dies hier ist mein Kessel – ein Ort, an dem modernes Leben auf moderne Mystik trifft, gewürzt mit Neugier, einer Prise Rebellion und einer ordentlichen Portion Herz. Mach es dir gemütlich, gönn dir etwas Warmes zu trinken, und lass uns gemeinsam entdecken, welche Magie sich in unserem Alltag versteckt.

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