Den inneren Rat einberufen
- Nicole

- 13. Juli
- 7 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 17. Juli
Innere Anteile in der modernen Hexenkunst – oder: Wie wir in einer Burnout-Kultur zu uns selbst zurückfinden
Ein Teil von mir wollte diesen Artikel mit einem frechen One-Liner starten. Ein anderer dachte kurz: Wird das vielleicht zu persönlich? Aber ehrlich gesagt – ich hab kein Problem damit, offen zu schreiben. Anonsten gäbe es diesen Blog nicht. Ich kenne meine Grenzen. Und ich weiss, dass genau hier etwas Relevantes liegt.
Denn eigentlich stand dieser Text gar nicht auf meinem Plan. Ich war in einer Therapiesitzung – doing my own inner work, wie wir so schön sagen – als plötzlich etwas sehr Vertrautes wieder auftauchte. Es fühlte sich an wie ein Wiedersehen mit einer alten Freundin: Ego-State-Arbeit. Zum ersten Mal begegnete sie mir vor über zehn Jahren, als ich mitten im Burnout steckte. Und jetzt ist sie wieder da – anders verpackt, aber mit derselben Klarheit: Schau hin. Nimm dir Raum.
Und ich habe zugehört.
Denn ich weiss mittlerweile: Wenn etwas vermeintlich „Zufälliges“ plötzlich so laut im System auftaucht, lohnt es sich, genauer hinzuschauen. Also bin ich dem Faden gefolgt.Ich habe mich tiefer in die Theorie eingelesen, verschiedene Perspektiven sortiert, wissenschaftliche Hintergründe recherchiert – und das Ganze durch meinen ganz eigenen, mystischen Filter laufen lassen. Was du hier liest, ist kein theoretisches Konzept. Es ist etwas, das ich gerade lebe. In mir bewege. Praktiziere.Und das sich – ohne grosse Dramatik, aber mit echter Tiefe – als transformierend zeigt.

Willkommen in der inneren Grossstadt
In der Stadt zu leben – mitten im Trubel, mitten in den Anforderungen dieser Zeit – heisst oft: irgendwie funktionieren. Aber eben auch: überleben, gestalten, neu denken und aufblühen. Jeden Tag ein bisschen mehr bei sich ankommen.
Das bedeutet auch: Da drin in uns, da ist ganz schön viel los.Die Macherin, die alles im Griff haben will. Die Kritikerin mit der hochgezogenen Augenbraue. Die Teenagerin, die einfach nur ihre Ruhe will. Die Wilde, die tanzen möchte. Die Heilerin, die alles fühlen kann.Und dann ist da noch die, die am liebsten verschwinden würde – mit einem Bus in Richtung irgendwo. Es fühlt sich an wie ein internes Team-Meeting – eins mit Gefühlsausbrüchen, Schweigemomenten und einer, die mit Tarotkarten, Chai und wildem Haar ganz neue Impulse reinbringt. Was wäre, wenn wir aufhören würden, sie alle zu übergehen – und stattdessen einfach mal zuhören?
Klingt das nur gut – oder ist das wirklich ein Ding?
Oh, es ist definitiv ein Ding! Und zwar nicht erst seit gestern. Die Psychologie beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit inneren Anteilen – und spirituelle, vor allem auch schamanische Traditionen arbeiten schon viel länger mit ähnlichen Konzepten. Zwei Modelle, mit denen ich mich aktuell besonders intensiv auseinandersetze (und die sich erstaunlich gut mit moderner Mystik verweben lassen), sind:
Internal Family Systems (IFS)
Entwickelt von Dr. Richard C. Schwartz
IFS ist ein therapeutisches Modell, das davon ausgeht, dass wir alle aus verschiedenen „inneren Anteilen“ bestehen – vergleichbar mit Subpersönlichkeiten. Diese Anteile haben jeweils bestimmte Aufgaben und entstehen meist durch prägende Erfahrungen. IFS unterscheidet typischerweise drei Hauptgruppen:
Manager:innen – versuchen, das System zu kontrollieren, Perfektion zu sichern, Schmerz zu vermeiden.
Feuerwehr-Anteile – springen impulsiv ein, um akuten emotionalen Schmerz zu betäuben (z. B. durch Ablenkung, Wut, Rückzug, Süchte).
Verstossene Anteile (Exiles) – tragen tieferliegenden Schmerz, oft aus früheren verletzenden Erfahrungen, und werden von den anderen Anteilen „weggesperrt“, um das System zu schützen.
Im Zentrum steht das Selbst (Self) – ein innerer Zustand, der neugierig, ruhig, mitfühlend und präsent ist. Ziel der IFS-Arbeit ist es, Zugang zu diesem Selbst zu gewinnen und aus dieser inneren Führung heraus mit den Anteilen in Beziehung zu treten. IFS wird heute breit angewendet, u. a. bei Angst, Depression, Trauma, Selbstwertthemen und Persönlichkeitsentwicklung. Es gibt auch wachsendes Interesse an IFS in Coaching, Meditation und sogar spiritueller Praxis.
Ego-State-Therapie
Ursprünglich entwickelt in den 1970ern von John und Helen Watkins
Etwas mehr "oldschool" ist die zuvor schon erwähnte Ego-State-Therapie. Diese basiert auf der Idee, dass unsere Persönlichkeit aus unterschiedlichen Ich-Zuständen besteht – also Teilen, die sich in bestimmten Lebensphasen gebildet haben. Jeder dieser Zustände hat eigene Erinnerungen, Gefühle, Überzeugungen und Reaktionen. Beispiele für solche Ich-Zustände:
Ein erwachsener, kompetenter Anteil, der den Alltag gut bewältigt
Ein verletztes inneres Kind, das sich ängstlich oder abgelehnt fühlt
Ein rebellischer Teenager-Anteil, der Grenzen testet oder Verweigerung ausdrückt
Ego-State-Therapie wird häufig in der Traumatherapie eingesetzt, besonders bei komplexen PTBS (Posttraumatische Belastungsstörungen), Dissoziation oder struktureller Dissoziation. Ziel ist es, die verschiedenen Zustände zu erkennen, in Kontakt zu bringen und zu integrieren – in einem sicheren Rahmen.
Und wenn du jetzt denkst: Gibt’s dafür auch Beweise?
Yes. Denn urbane Mystiker:innen dürfen auch Nerds sein. Studien zu IFS und Ego-State-Therapie häufen sich. Eine Pilotstudie aus dem Jahr 2015 (erschienen im Journal of Aggression, Maltreatment & Trauma) zeigte z. B., dass IFS die Symptome von PTBS signifikant reduzieren kann. Eine systematische Übersichtsarbeit von Weinberg & Ronel (2021) belegt, dass Arbeit mit inneren Anteilen das emotionale Gleichgewicht stärkt, Selbstmitgefühl fördert und Ängste reduziert.
Auch die Neurowissenschaften ziehen mit: Hirnscans zeigen, dass mitfühlende Selbstreflexion die medialen präfrontalen Areale im Gehirn aktiviert – also genau die Regionen, die für Selbstwahrnehmung und emotionale Regulation zuständig sind. Heisst im Klartext: Diese Arbeit verändert dein Gehirn. In Richtung Klarheit und innerer Ruhe.
Auch die Ego-State-Therapie ist gut belegt – besonders in der traumasensiblen Arbeit mit komplexer PTBS und dissoziativen Störungen. Therapeut:innen berichten, dass das Erkennen und achtsame Ansprechen von Ich-Zuständen Klient:innen hilft, Traumata sicher zu verarbeiten – ohne das Nervensystem zu überfluten.
Verbindung zur schamanischen Weltsicht
Was ich persönlich besonders spannend finde: Diese modernen Modelle ergänzen sich wunderbar mit schamanischen Sichtweisen, mit denen ich mich schon seit vielen Jahren beschäftige. Über die Zeit habe ich diverse schamanisch geprägte Aus- und Weiterbildungen gemacht – nicht, um Schamanin zu werden, sondern weil ich verstehen wollte, wie tief unsere 'innere Welt' vernetzt ist.
In vielen schamanischen Traditionen gibt es eine tiefe Weisheit über die Vielschichtigkeit des Menschseins und der Welt, oder besser gesagt, der Welten. Der Mensch wird nicht als ein starrer „Charakter“ verstanden, sondern als ein komplexes Geflecht aus Seelenaspekten, inneren Helfer:innen, Ahnenverbindungen und sogar verlorenen Anteilen, die im Laufe des Lebens abgespalten oder vergessen wurden. Diese sogenannten Seelenanteile können – laut schamanischer Lehre – durch Trauma, Schock oder starke emotionale Erfahrungen verloren gehen. Schamanische Praktiken wie die Seelenrückholung zielen genau darauf ab: verlorene Anteile zu integrieren und innere Ganzheit wiederherzustellen.
Klingt das vertraut? Für mich war es ein Aha-Moment, als ich erkannte, dass die innere Kind-Arbeit, Ego-State-Therapie und andere psychologische Methoden im Grunde oft an denselben Punkten ansetzen. Auch hier geht es um Integration. Um Wiederverbindung. Um die Würdigung jener Anteile, die wir zu lange weggeschoben haben, weil sie „zu viel“, „zu verletzlich“ oder „nicht leistungsfähig genug“ wirkten. Was mir an schamanischen Zugängen besonders gefällt: Sie arbeiten nicht nur mit Verstand und Sprache, sondern oft auf einer symbolischen, körperlichen und energetischen Ebene. Die Arbeit mit Krafttieren, Archetypen oder inneren Landschaften schafft einen intuitiven Zugang zu jenen inneren Anteilen, die sich verbal oft schwer greifen lassen. Und plötzlich kann das „ängstliche Kind“ nicht nur verstanden, sondern auch gesehen, gehalten und beschützt werden – vielleicht sogar von einer inneren Kriegerin oder einem liebevollen Tiergeist.
Und wo kommt jetzt die Urbane Mystik ins Spiel?
Genau hier. Zwischen U-Bahn-Station und Teammeeting, irgendwo zwischen Wochenplan und Selbstzweifeln, meldet sich ein innerer Anteil zu Wort. Vielleicht das verletzliche Kind, das sich nach Sicherheit sehnt. Oder die innere Kriegerin, die endlich Klartext sprechen will. Vielleicht spürst du plötzlich eine intuitive Gewissheit, ohne genau zu wissen, woher sie kommt – ein Seelenflüstern mitten im Grossstadtlärm.
Wenn du schon mal mit deinem inneren Kind gearbeitet hast, Schattenarbeit geleistet oder eine Seelenrückholung erlebt hast, dann kennst du deine Anteile längst. Vielleicht hast du sogar schon gespürt, wie ein Teil von dir zurückkehrt. Oder dein Bauchgefühl flüstert dir zu: „Noch nicht.“ Das ist dein innerer Anteil, der zu dir spricht. Ob du ihn Geistführer:in, Fragment, Seelenanteil oder innere Wächterin nennst, ist eigentlich egal. Wichtig ist: Du hast zugehört.
Denn Magie steckt nicht im Etikett – sie lebt im bewussten Wahrnehmen und Dasein. Gerade in einer Welt, die uns ständig sagt, wir sollen uns zusammenreissen, funktionieren und bloss nicht zu viel fühlen, ist das bewusste Hinspüren auf die eigene Innenwelt ein radikaler, fast schon revolutionärer Akt.
Und genau darin liegt die Essenz der Urbanen Mystik: Sie braucht kein Bergretreat und keine Räucherstäbchenpflicht. Sie lebt dort, wo du dich dir selbst zuwendest – inmitten des Alltags, mit beiden Beinen auf dem Betonboden und dem Herzen offen für das, was in dir ruft.
Eine Praxis für verschiedenen inneren Anteile der Urbane Hexe
Zu diesem Thema habe ich da ein kleines Ritual, das ich ab und zu mache – besonders an Tagen, an denen gefühlt zehn Dinge an mir zerren und ich eigentlich nur die Decke über den Kopf ziehen will. Vielleicht ist es auch etwas für dich:
Urban Mystic Ritual: „Den inneren Rat einberufen“
Zünde eine Kerze an – oder nimm einfach einen bewussten Atemzug. Egal ob im Pyjama oder im Power Suit.
Stell dir innerlich folgende Fragen:
Welcher Teil von mir ist heute besonders laut?
Welcher Teil will mich beschützen?
Gibt es jemanden in mir, den ich überhöre?
Warte auf die Antwort. Sie kann als Stimme, Bild, Erinnerung oder Gefühl kommen. Begrüsse diesen Teil wie eine Freundin, die schon viel zu lange eine schwere Tasche allein getragen hat. Kein Reparieren. Kein Beschämen. Nur Neugier.
Frage sie:
Was brauchst du heute von mir?
Wovor hast du Angst, wenn du loslässt?
Beende das Ritual mit einem Atemzug – oder sag deinen Anteilen laut Danke. (Ja, mit sich selbst zu reden zählt als spirituelle Hygiene.)
Real Talk
Das hier ist kein „Love & Light“-Bypassing. (Übrigens ein Ausdruck, den ich nicht ausstehen kann – weder als Hexe noch als Mensch. Denn sind wir ehrlich: Viel von dieser sogenannten „Love & Light“-Kultur ist einfach nur toxische Positivität im Glitzergewand. Es geht dabei nicht ums Heilen – sondern ums Verdrängen. Um Schmerz zum Schweigen zu bringen, statt ihm Raum zu geben.)
Das hier hingegen ist radikale Ehrlichkeit. Verkörperte Selbstführung. Und Heilung, der es völlig egal ist, wie viele Likes sie bekommt. Es geht darum, wirklich aufzutauchen – nicht nur für die Instagram-Version von dir, sondern für die wütenden, verängstigten, zweifelnden Anteile, die immer noch denken, sie seien nicht genug. Denn wenn diese Stimmen gehört werden, beginnt die Magie. Der Nebel lichtet sich. Die Panik weicht. Die Ideen fliessen. Du erinnerst dich daran, wer du bist. Und erkennst: Du bist nicht kaputt. Du leitest nur einen ziemlich lebhaften inneren Hexenzirkel.
Zum Schluss
Das ist moderne Mystik. Nicht immer schön. Nicht immer sauber. Aber immer echt.
Also: Wenn du dich das nächste Mal zerstreut fühlst, dich allem entziehst oder über einen LinkedIn-Kommentar emotionaler wirst, als dir lieb ist (ja, auch das passiert) – nimm dir einen Moment. Zünde eine Kerze an. Ruf deinen inneren Rat ein. Frag, wer da spricht. Und hör zu – als hinge deine Magie davon ab. Vielleicht tut sie das ja.
P.S.: Vielleicht ruft mich diese Arbeit gerade deshalb wieder – weil mein System, mein ganzer innerer Zirkel, weiss, dass ich sie jetzt brauche. Vielleicht ist es bei dir genauso.system — my whole inner coven — knows I need it. Maybe yours does, too.









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