Eine Urbane Mystikerin bei den Benediktinern
- Nicole

- 31. Juli
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 11. Sept.
Für uns begann die Reise zur Stiftsbibliothek in St. Gallen mit dem Zug von Zürich aus. Einen Chai-Latte in der Hand, Gesprächsfetzen über Mythen, alte Systeme und moderne Spiritualität im Ohr. Klassischer Urban Mystic Alltag, nur diesmal mit barocker Kulisse.
St. Gallen empfängt mit einer Mischung aus Geschichte und Provinz-Charme. Und schon beim ersten Schritt in den Klosterbezirk spürt man: Hier war einmal Macht. Wissen. Kontrolle – und zugleich eine tiefe Sehnsucht nach etwas Grösserem. Die berühmte Stiftsbibliothek ist kein Ort der stillen Demut, sondern einer der leisen Autorität. Barock, schwer, imposant. Der Duft von Holz und Jahrhunderten hängt in der Luft. 170'000 Bücher. Viele davon älter als die Idee, dass Wissen allen gehören könnte. Nun bin ich keine Pilgerin, sondern urbane Mystikerin. Ich komme nicht, um zu beten – ich komme, um zu verstehen. So stand ich da – mit wachem Blick und der Frage: Was lässt sich aus altem Wissen ziehen, wenn wir es nicht mehr unkritisch verehren müssen?
Die Bibliothek ist Teil des ehemaligen Benediktinerklosters. Damals war das Schreiben ein Akt der Spiritualität – aber auch ein Akt der Kontrolle. Was aufgeschrieben wurde, überdauerte. Was nicht ins Weltbild passte, wurde gelöscht, vergessen oder gar verbrannt. Ich bin dankbar, dass so viel erhalten blieb. Und ich bin mir bewusst, dass das, was fehlt, oft mindestens genauso viel sagt.

Die Stiftsbibliothek – ein Heiligtum des Geistes
Die Stiftsbibliothek St. Gallen wurde im 8. Jahrhundert gegründet und gehört zu den ältesten Bibliotheken Europas. Sie ist das Herzstück des ehemaligen Benediktinerklosters und seit 1983 sogar Teil des UNESCO-Weltkulturerbes. Die Bibliothek umfasst heute über 170.000 Bücher, darunter rund 2.100 mittelalterliche Handschriften – viele davon einzigartig. Die bekanntesten Schätze:
der St. Galler Klosterplan – der einzige überlieferte Bauplan eines frühmittelalterlichen Klosters, eine spirituelle Vision in Architektur gegossen;
das Abrogans, das älteste bekannte Wörterbuch der deutschen Sprache;
medizinische, astrologische, liturgische und theologische Texte, die ein spirituelles Weltverständnis jenseits von Schwarzweiss denken lassen.
Der berühmte Barocksaal, erbaut im 18. Jahrhundert, ist nicht nur ein Ort des Staunens, sondern ein Denkmal der Idee, dass Wissen heilen kann. Über dem Eingang steht in griechischer Sprache:„Psychés iatreion“ – Heilapotheke der Seele. Und ja – als solch kann diese Bibliothek wohl wirklich verstanden werden.
Das Google von damals
Seit meiner Kindheit bin ich fasziniert von Büchern. Von Geschichten, von Mythen, von diesem geheimen Knistern zwischen den Seiten. Und ja – auch die Bibel war mal Teil davon. Nicht als Wahrheit in Stein gemeisselt, sondern als eines von vielen alten Textgeflechten, durchzogen von Symbolik, Archetypen und, ganz ehrlich: ziemlich viel Drama. Für mich als Urban Mystic ist die Bibel kein unberührbarer Monolith, sondern ein faszinierender Mythentext unter vielen – neben Gilgamesch, Isis, Orakeltexten und feministischen Hexenbüchern auf meinem Nachttisch. Und trotzdem: Ich war tief beeindruckt von der schieren Schönheit und Schwere des Ortes. Von den Mönchen, die da vor Jahrhunderten bei Kerzenlicht schrieben, katalogisierten, retteten, was wir heute Wissen nennen. Wissen, das überlebt hat – weil jemand es wichtig fand.
Christliche Mystik – ein Blick von aussen und innen zugleich
Ich bin von Haus aus fasziniert von Mystik – egal ob sie in buddhistischen Koans, keltischen Ritualen oder Sufi-Versen leuchtet. Auch die christliche Mystik hat dabei ihren Platz: Meister Eckhart, Teresa von Ávila, Hildegard von Bingen – all das sind Stimmen, die eine spirituelle Tiefe berühren, die ich kenne.
Als ich durch die Ausstellung ging, spürte ich Neugier. Respekt. Und dieses leise Staunen, das sich einstellt, wenn Worte aus einer längst vergangenen Zeit plötzlich vertraut klingen.Trotz Jahrhunderten, trotz anderem Kontext, trotz klösterlicher Disziplin – manches berührt dieselben inneren Räume, die auch mein eigener spirituellen Weg als Urban Mystic berührt hat. Nicht, weil ich mich darin wiederfinde. Sondern weil ich erkenne: Die Suche war immer schon da. Die Sprache war nur eine andere.
Christliche Mystik spricht von der Dunkelheit der Seele, vom Loslassen, vom Einswerden mit dem Göttlichen. Sie hat eine stille Kraft – wenn man sich von Dogma und patriarchaler Verpackung nicht blenden lässt. Nicht alles davon berührt mich – aber einiges erkenne ich wieder. Anders gesagt: Ich muss nicht Teil dieses Weges sein, um zu verstehen, dass er für andere tief war. Und ich darf ihn betrachten – mit wachem Blick und einem offenen, aber klar positionierten Herzen.
Eine mystische Inventur
Auch derGewölbekeller ist sehenswert. Vorbei an Modellen des Klosterplans, an interaktiven Stationen und einer Replik des Abrogans. Ich sehe das Streben nach Ordnung. Nach Heilung. Nach Sinn. Und ich denke: Vielleicht war ich nie so weit entfernt von diesen alten Seelen, wie ich dachte. Ich glaube nicht an Hierarchien im Himmel. Aber ich glaube an Tiefe.Ich glaube an Rituale. An Stille. An Bücher, die flüstern.Und an Räume, die uns lehren, dass Wissen nicht laut sein muss, um mächtig zu sein.
Für dich, liebe:r Leser:in
Du musst kein:e Christ:in sein, um von christlicher Mystik berührt zu werden. Nein, ganz im Gegenteil – du darfst auch eine badass urbane Mystiker:in sein, die Räucherstäbchen neben Matcha-Pulver lagert und Tarotkarten zwischen Psychologiebüchern aufbewahrt. Denn Urban Mysticism heisst nicht, alten Pfaden blind zu folgen. Sondern sie mit neuen Schritten zu begehen.
Du darfst zweifeln, hinterfragen, umdeuten. Du darfst dich inspirieren lassen – ohne dich zu unterwerfen. Du darfst staunen, ohne zu folgen. Rituale lieben, ohne an Dogmen zu glauben. Mit der einen Hand ein uraltes Manuskript berühren – und mit der anderen deinen ganz eigenen spirituellen Weg schreiben. Denn echte Mystik passt nicht in eine Schublade. Sie fragt nicht nach Mitgliedsausweisen. Sie zündet ein inneres Feuer an – egal, woher du kommst. Und ganz ehrlich? Wenn du spürst, dass etwas Grösseres ist als du –ist es egal, ob du in einer Kirche stehst, in einem Wald sitzt oder durch eine barocke Bibliothek schlenderst. Mir persönlich hat die Stiftsbibliothek nicht nur Antworten gegeben. Sie hat mich auch mit einer Frage gehen lassen:
Was bewahrst du – und was transformierst du? Und ich glaube, das ist die eigentliche Magie.









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