Heidnische Feste: Das Rad des Jahres aus der Sicht einer Urbanen Mystikerin
- Nicole

- 22. Juli
- 5 Min. Lesezeit
„Was bedeutet es, im Einklang mit der Erde zu leben — wenn du kaum Zeit findest, deine Pflanzen zu giessen?“
Als ich gerade 15 Jahre alt war, bin ich den sogenannten Jahreskreisfesten oder heidnischen Jahreskreisfesten zum ersten Mal begegnet. Ich jonglierte noch nicht mit Arbeit, Rechnungen und Erschöpfung — ich war mitten in Schulalltag, Teenagerfrust und einem unbestimmten Gefühl, dass etwas fehlte. Während andere für Prüfungen lernten oder sich in Teenagerverliebtheiten verstrickten, fühlte ich mich zu etwas gezogen, das älter, tiefer und seltsam vertraut war: den Rhythmen der Jahreszeiten, den Mondphasen, der stillen Weisheit der Natur.
Damals begann alles mit Neugier: die Vorstellung, dass Zeit nicht nur linear verläuft, sondern zyklisch — dass die Erde sich in heiligen Rhythmen bewegt und wir diese Rhythmen ehren können. Das hat etwas in mir entzündet, wofür ich zunächst keine Worte hatte. Ich las Bücher, druckte Rituale von skurrilen Webseiten, und feierte Sabbats heimlich mit einer einzigen Kerze auf meiner Fensterbank.
Im Laufe der Jahre wurde dieser stille Funke zu einer tief verwurzelten Praxis, die mich durch frühes Erwachsenensein, Rückkehr nach Burnout und den Balanceakt des modernen Lebens begleitet. Und irgendwann hörte ich auf, einfach nur dem Rad zu folgen — ich begann, es neu zu formen, passend zu der Welt, in der ich wirklich lebe.

Ein heiliges Flickwerk: Die (Neu)Konstruktion des Jahresrads
Beginnen wir mit etwas Wichtigem: Das Jahresrad, wie wir es heute kennen, ist eine moderne Konstruktion — verwurzelt in Ehrfurcht, ja, aber auch in Rekonstruktion. Es wurde in der Mitte des 20. Jahrhunderts durch die Wicca-Bewegung populär gemacht, vor allem durch Figuren wie Gerald Gardner und Doreen Valiente, die Elemente aus keltischer, nordischer und britischer Folktradition mit zeremonieller Magie und moderner Mystik verflochten
.
Einige der Feste im Rad — wie Samhain oder Beltane — haben tatsächlich historische Wurzeln im vorsächsischen keltischen Kalender. Andere, wie Mabon oder Ostara, sind viel vager. Ostara etwa beruht lose auf einer Erwähnung der Göttin „Eostre“ in den Schriften des Beda, ohne archäologische oder folkloristische Belege für eine weit verbreitete Feier. Es ist poetisch. Es ist symbolisch. Aber nicht so alt, wie manche glauben.
Und das ist völlig in Ordnung.
So wie sich Sprachen entwickeln, entwickeln sich auch spirituelle Praktiken. Das Jahresrad war nie als exakte Kopie der Vergangenheit gedacht — es ist ein Werkzeug. Ein Kompass. Ein lebendiger Rhythmus, den wir adaptieren, hinterfragen und zurückerobern dürfen. Trotzdem ist es wichtig, ehrlich zu bleiben, woher diese Elemente eigentlich stammen. In manchen New-Age- oder Pagan-Kreisen gibt es die Tendenz, Ursprünge zu mythologisieren — etwas älter darzustellen, als es tatsächlich ist, als ob allein das Alter es heiliger macht. Doch Bedeutung wird nicht danach bemessen, wie alt etwas ist. Sie wird danach gemessen, wie tief es jetzt in uns resoniert. Und damit spirituelle Praxis uns wirklich nährt, muss sie flexibel sein. Sie muss mit uns wachsen. Das Jahresrad bleibt nur lebendig, wenn es verbunden bleibt mit dem echten, modernen Leben — sich mit unseren Städten, Jahreszeiten, Kämpfen und uns selbst weiterentwickelt.
Das traditionelle Jahresrad - die Wicca-Version
Das moderne Jahresrad besteht aus acht Sabbats, die gleichmässig über das Jahr verteilt sind und oft als Wendepunkte der Jahreszeiten beschrieben werden. Vier davon sind solare Feste, basierend auf astronomischen Ereignissen: die Sonnenwenden und Tagundnachtgleichen, wenn das Gleichgewicht von Licht und Dunkel sichtbar kippt. Die anderen vier sind die sogenannten Halbviertel-Tage, die ungefähr zwischen den Sonnenfesten liegen und traditionell in agrarischen/keltischen Kulturen als jahreszeitliche Wendepunkte gefeiert wurden: Rückkehr der Milch, Pflanzzeit, erste Ernte und das neue Jahr der Ahnen.
Obwohl diese Halbviertel-Feste nicht direkt mit astronomischen Ereignissen verknüpft sind, sind sie tief saisonal — und werden heute oft mit dem Mondzyklus verbunden. Viele Hexen und Paganer(innen), mich eingeschlossen, feiern sie nach dem nächstliegenden Voll- oder Neumond, weil diese Energie sich intuitiver anfühlt und den Ton der jeweiligen Jahreszeit trifft.
Die acht Sabbats im Überblick
Yule (Wintersonnenwende, ca. 21. Dezember): Wiedergeburt der Sonne, zurückkehrendes Licht
Imbolc (1. Februar oder 2. Vollmond des Jahres): Brigid’s Flamme, Erdenregung
Ostara (Frühlings-Tagundnachtgleiche, ca. 21. März): Gleichgewicht, Fruchtbarkeit, Erwachen
Beltane (1. Mai oder 5. Vollmond des Jahres): Feuer, Sinnlichkeit, Verbindung
Litha (Sommersonnenwende, ca. 21. Juni): Kraft, Fülle, Höhepunkt der Sonne
Lughnasadh (1. August oder 8. Vollmond des Jahres): Erste Ernte, Dankbarkeit
Mabon (Herbst-Tagundnachtgleiche, ca. 23. September): Zweite Ernte, Loslassen
Samhain (31. Oktober oder 11. Neumond des Jahres): Tod, Ahnen, Ende und Neubeginn
Gemeinsam markieren diese acht Speichen des Rads einen rhythmischen Tanz zwischen Himmel und Erde, Sonne und Mond, Äussem Licht und innerer Wandlung — und erinnern uns daran, dass Zeit nicht nur etwas ist, das wir verwalten, sondern etwas, mit dem wir mitfliessen können. Dieses klassische Bild des Jahresrads ist wunderschön — poetisch, symbolträchtig, intuitiv. Aber bei mir hat sich etwas verändert, als ich begann, nicht nur zu fragen, was ich feiere, sondern warum. Seit über zwei Jahrzehnten auf diesem Weg entspricht mein Rad nicht mehr exakt dem Wicca-Modell. Es ist unordentlicher. Intuitiver. Lebendiger geworden.
Meine persönliche Praxis: Was ich wirklich feiere
Im Lauf der Jahre haben sich meine Feiern von festen Plänen hin zu Antworten auf die Energie der Jahreszeit entwickelt — im Hier und Jetzt, im echten Leben. Ich feiere nicht jeden Sabbat nur, weil er im Kalender steht. Manche ziehen still vorbei. Andere kommen mit einem Ritualknall, Reflexion oder auch nur einem Spaziergang und einer Tasse Tee unter dem Vollmond.
Zum Beispiel nenne ich die Frühjahrs-Tagundnachtgleiche nicht mehr Ostara. Nicht, weil ich die Jahreszeiten nicht ehre — das tue ich sehr wohl — sondern weil dieser Name sich für mich eher wie eine moderne Erfindung anfühlt als ein authentischer Teil meiner Praxis. Ich nenne sie einfach: Frühlingstagundnachtgleiche. Licht kehrt zurück, die Tage werden länger, das Leben erwacht — ein Gleichgewicht zwischen Licht und Dunkel.
Lughnasadh hingegen hat in meinem Leben eine eigene Note bekommen. Es fällt ungefähr mit dem Schweizer Nationalfeiertag zusammen und verbindet Erntethemen mit moderner Festlichkeit — Grillabende, Gemeinschaft, der Duft von gegrilltem Gemüse in der Luft. Nicht nach Lehrbuch, aber bedeutungsvoll. Es landet.
Während das traditionelle Rad Sabbats auf feste Solardaten legt, folge ich eher Mondrhythmen — ich feiere Imbolc, Beltane oder Lammas, wenn sie sich präsent anfühlen. Meist ist es ein Vollmond, manchmal einfach ein deutliches Gefühl, dass die Jahreszeit sich wandelt. Für mich sind diese Momente nicht an einen festen Tag gebunden, sondern an eine bestimmte Zeitqualität. Ein Gefühl in der Luft, eine energetische Veränderung. Wenn es sich richtig anfühlt, feiere ich. Mein Rad ist nicht ordentlich. Es hält sich nicht immer an Regeln. Aber es gehört mir — verwurzelt in Intention, geleitet durch Erfahrung und immer im Wandel mit dem Leben, das ich tatsächlich führe — nicht einer idealisierten Version dessen, wie Paganismus angeblich aussehen sollte.
Paganismus als lebendige Praxis
Was ich gelernt habe: Paganismus ist keine Aufführung. Er besteht nicht daraus, wie viele Kräuter in deinem Kräuterschrank stehen oder wie viele Sabbats du perfekt bejubeld hast. Es ist eine Beziehung — zu den Jahreszeiten, der Erde, deinem Körper, deinen Ahnen und deiner eigenen Wahrheit. Das Jahresrad ist ein schönes Gerüst. Aber wie jedes Gerüst sollte es dich stützen — nicht einsperren. Es sollte dir Wurzeln geben, nicht Fesseln. Und es muss mit dir wachsen, wie jeder lebendige Pfad das tut.
Was jetzt kommt
In den kommenden Monaten werde ich persönliche Reflexionen zu jedem Sabbat teilen — wie ich ihn feiere, was er für mich bedeutet und wie du ihn für dein eigenes urbanes, modernes, unperfektes, magisches Leben formen kannst. Das erste Thema ist bereits online: Es geht um Litha — die volle Hitze des Sommers und was sie jenseits von Blumenkränzen und Freudenfeuern bedeutet. Denn egal, ob du barfuss auf einer Wiese tanzt oder zwischen Zoom-Calls Räucherstäbchen anzündest — du verdienst eine Spiritualität, die dich da abholt, wo du wirklich bist.









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