Lass uns über religiöses Trauma sprechen
- Nicole Ardin
- 7. Sept.
- 4 Min. Lesezeit
Ein heiliges Gespräch für alle, die noch immer Scham im Namen Gottes tragen
Ich weiss, ich weiss – schon wieder geht es um das Christentum. Dafür bist du gar nicht hier. Verstehe ich. Aber gibt dem Thema bitte eine Chance, denn es gibt noch viel aufzuarbeiten. Denn: Religiöses Trauma ist real. Und auch wenn es in vielen Traditionen vorkommt, dürfen wir nicht ignorieren, dass gerade die christliche Institution – insbesondere in ihren dogmatischen, streng institutionalisierten Formen – enormen Schaden angerichtet hat und immer noch anrichtet.
Bis heute verstehe ich nicht, warum ein allmächtiger, allwissender und angeblich 'lieber' Gott Strafe und Hass als Hauptstrategie wählen sollte, um seine Kinder „zu erziehen“. Nimmt man die Bibel wörtlich, wirkt Gott launisch, eifersüchtig und erstaunlich unreif für jemanden, der das gesamte Universum regieren soll. Und trotzdem mussten Millionen Menschen lernen, diese Figur blind als den „guten Vater“ zu verehren – oder mit ewigen Konsequenzen zu rechnen.

Die Instrumentalisierung von Angst
Das System funktioniert so:
Du wirst sündig geboren.
Du musst dich ständig bekennen und „Gutes tun“, um Liebe zu verdienen.
Der Himmel wird als Belohnung vor dir hergehalten, während die Hölle als Peitsche hinter deinem Rücken droht.
Das ist keine Spiritualität. Das ist ein auf Angst gebautes Kontrollsystem. Und Angst nährt keine Liebe, keine Authentizität und kein Wachstum – sie erzeugt Scham, Schuldgefühle und die Entfremdung vom eigenen Selbst.
Auf dem Papier gilt die Erbsünde für alle. In der Praxis aber tragen Frauen – und alle, die das Feminine verkörpern – oft die schwerere Last. Von Anfang an wird Eva als die dargestellt, die die Sünde in die Welt gebracht hat. Diese eine Geschichte allein hat über Jahrhunderte die Grundlage dafür gelegt, dass weibliche Körper, Wünsche und Stimmen als sündiger, gefährlicher und kontrollbedürftiger gelten.
Männern wird zwar ebenfalls gesagt, sie seien Sünder. Aber Frauen tragen zusätzlich die Schuld dafür, Männer überhaupt erst „zum Straucheln“ zu bringen. Man denke an Reinheitskultur, an Kleidervorschriften, an den ständigen Druck, den eigenen Körper, die eigene Sexualität, ja sogar die eigene Präsenz zu überwachen – weil sie sonst „jemanden verführen“ könnte.
Das ist nicht nur Theologie. Das ist ein System der Scham, tief in die Kultur eingebettet, mit dem Ziel, Macht und Handlungsspielräume einzuschränken.
Die Dämonisierung des Femininen
Einer der konstantesten roten Fäden in der christlichen Geschichte ist die Dämonisierung der Frau und des Weiblichen. Von Eva, die für den Sündenfall verantwortlich gemacht wird, über die Hexenverfolgungen bis hin zur modernen Reinheitskultur – die Botschaft war und ist klar: Das Weibliche ist gefährlich, verführerisch, sündig und muss kontrolliert werden.
Für Frauen, queere Menschen und alle, die Fluidität, Weichheit oder Sinnlichkeit verkörpern, hinterlässt das tiefe Spuren. Es vermittelt: Dein Körper ist falsch. Deine Wünsche sind sündig. Deine Kraft muss gezähmt werden. Das ist nicht nur Theologie – das ist psychologische Konditionierung.
Symbole des Leidens
Und dann ist da noch das Kreuz. Ein Folter- und Hinrichtungsinstrument wurde zum ultimativen spirituellen Symbol erhoben. Denk da einen Moment drüber nach: Anstatt Freude, Schöpfung oder Liebe zu feiern, wählte das Christentum den Tod und das Leiden als Zentrum seiner Ikonografie. Was macht das mit einer Psyche, wenn Leiden als heilig verehrt wird? Es normalisiert die Vorstellung, dass Schmerz heilig sei und dass „gut sein“ bedeutet, zu ertragen, zu gehorchen und sich selbst zu opfern.
Die psychischen Wunden religiösen Traumas
Religiöses Trauma bedeutet nicht nur, „Kirche doof zu finden“. Es kann tiefe und langfristige Folgen haben, etwa:
Chronische Schuld und Scham – das Gefühl, niemals genug zu sein.
Angst vor Ablehnung oder Strafe – sowohl göttlich als auch menschlich.
Schwierigkeiten, sich selbst zu vertrauen – weil man gelernt hat, die eigenen Gedanken, Gefühle und Intuition zu misstrauen.
Belastete Beziehungen – besonders, wenn Familienmitglieder weiterhin stark im Glauben verstrickt sind.
Spirituelle Verwirrung – ein tiefes Sehnen nach Sinn, aber Angst, ihn ausserhalb des gewohnten Rahmens zu suchen.
Bei manchen zeigen sich sogar Symptome ähnlich einer posttraumatischen Belastungsstörung: Albträume, Überwachsamkeit, Panikattacken, tiefes Misstrauen gegenüber Autoritätspersonen.
Ein heiliges Gespräch
Wenn du dich in dem wiedererkennst, bitte wisse: Du bist nicht allein. Was du erlebt hast, war real. Es war nicht einfach nur „du bist zu sensibel“. Es war ein System, das bewusst auf Kontrolle und Beschämung ausgelegt war. Das beim Namen zu nennen, ist bereits ein Akt der Befreiung.
Und hier liegt das Paradox: Viele, die das Christentum verlassen, tragen trotzdem seine Abdrücke in sich. Die Scham, die Schuld, das Zögern, Freude oder Lust zuzulassen – selbst dann, wenn man längst nicht mehr an die Theologie glaubt. So tief kann religiöses Trauma verwurzelt sein.
Doch Heilung ist möglich. Sie beginnt damit, die eigene Stimme, den eigenen Körper und das Recht, Spiritualität selbst zu definieren, zurückzuerobern. Das kann Therapie sein, Tagebuchschreiben, der Anschluss an Exvangelical-Communities oder einfach das Zulassen von Wut, Trauer – und irgendwann auch von Sanftheit.
Das Heilige zurückerobern
Religion und Spiritualität sind nicht dasselbe. Du kannst schädliche Institutionen hinter dir lassen und dennoch deine Sehnsucht nach dem Heiligen ehren. Du kannst Rituale erschaffen, die dich nähren, Gemeinschaften finden, die deine Ganzheit feiern, und Philosophien erkunden, die dich stärken statt kleinmachen.
Die Wahrheit ist: Kein Gott, der es wert wäre, angebetet zu werden, würde deine Selbstaufgabe fordern. Kein liebevoller Geist würde wollen, dass du dich für dein Menschsein schämst. Wenn du also noch Scham im Namen Gottes trägst – nimm dies als Erlaubnis, sie abzulegen. Heilung ist kein Verrat. Deine Ganzheit zurückzufordern ist keine Sünde. Es ist heilige Arbeit.
Kommentare