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Moderne Wicca: Zwischen Ritual und Rebellion

Aktualisiert: 8. Okt.

Ich bin keine Wicca. War ich nie. Aber als jemand, der den Grossteil seines Lebens den Weg der Hexerei gegangen ist – urban, feministisch, mystisch – kann ich Ihnen Folgendes sagen: Wicca war von Anfang an Teil der Diskussion. Für viele Hexen, die in den 90er und 2000er Jahren erwachsen wurden, war Wicca der Einstieg. Das erste Ritual, der erste Vollmondzauber, das erste Buch, das man heimlich aus einem Metaphysikladen auslieh und unter der Bettdecke las. Und doch sind nicht alle Hexen Wiccans. Diese Unterscheidung ist wichtig.


Heute entwickelt sich Wicca weiter – oder, je nachdem, wen man fragt, zerbricht, queert und dekonstruiert es. Was Mitte des 20. Jahrhunderts als strukturierter, initiatorischer Weg begann, hat sich zu einem viel breiteren (und komplexeren) Rahmen entwickelt. Dieser Artikel ist nicht innerhalb der Tradition geschrieben, sondern neben ihr: mit Neugier, Kritik und Sorgfalt.


Sprechen wir über moderne Wicca – das Ritual, die Rebellion und die Neuinterpretation.


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Was also ist Wicca?

Wicca ist eine moderne heidnische Religion, die offiziell in den 1950er Jahren entstand, aber von älterer zeremonieller Magie, Naturverehrung und vorchristlicher Spiritualität inspiriert ist. Sie beinhaltet oft rituelle Arbeit, saisonale Feiern und die Verehrung einer Göttin und eines Gottes. Während manche Wiccans in Zirkeln mit strukturierten Initiationen praktizieren, folgen andere einsamen Pfaden. Wicca ist nicht dogmatisch – sondern ein System mit Ethik, Symbolen und einer Weltanschauung, die auf Gleichgewicht, Energie und Intention basiert.


Die Wurzeln

Wicca entstand nicht in alten Tempeln – es entstand im Nachkriegs-Grossbritannien, als die Menschen nach spirituellen Alternativen suchten. Gerald Gardner, ein pensionierter Beamter mit einem ausgeprägten Interesse an zeremonieller Magie und esoterischen Traditionen, prägte die ersten formalisierten Wicca-Zirkel mit. Gardnerianisches Wicca, wie es genannt wurde, vermischte Volksmagie, Thelema, Freimaurerei und romantisierte Vorstellungen einer vorchristlichen „Alten Religion“, auch bekannt als heidnische Traditionen. Es betonte Rituale, Geheimhaltung und den heiligen Tanz zwischen göttlichen weiblichen und männlichen Energien. In vielerlei Hinsicht war es radikal: Wicca stellte das Weibliche wieder in den Mittelpunkt, feierte Sexualität und Natur und führte Magie als heilig in eine Welt ein, die noch immer von patriarchalischen Religionen dominiert wurde.


Doch wie viele Revolutionen trug auch sie den Stempel der Systeme, die sie zu untergraben versuchte. Das frühe Wicca-Modell war hierarchisch und tief in binären Geschlechterrollen verwurzelt. Göttin und Gott wurden als gleichwertig angesehen – aber immer als Paar. Die Praxis war spirituell und strukturiert, ermächtigend und einschränkend.


Wicca war Rebellion im Samtmantel. Ein Mittelfinger an das Patriarchat – und dennoch Händchen haltend mit der Heteronormativität.

Zwischen Schatten und Salzkreisen

Das göttliche Weibliche und Männliche waren in Wicca als gleichwertig konzipiert – zwei Hälften eines heiligen Ganzen. Theoretisch war das radikal. In der Praxis schloss es dennoch viele Menschen aus. Während sich die Welt um uns herum einem breiteren Verständnis von Geschlecht und Identität zuwendet, stellen viele Hexen – insbesondere queere, nichtbinäre und transsexuelle Anhänger – den zentralen Dualismus der Wicca-Theologie in Frage. Muss Göttlichkeit immer paarweise auftreten? Muss Polarität immer Frau/Mann, Gebärmutter/Samen, Mond/Sonne bedeuten?


Dazu habe ich selbst ein Erlebnis, bei dem mir die strenge Dualität in manchen Köpfen damals, besonders bewusst wurde. Damals ging es um einen Post einer Art selbsternannten Oberhexe, in dem sie erklärte, warum „echte Hexen“ den Mond die Mondin nennen sollten – eine feminisierte Form des maskulinen Nomens der Mond im Deutschen. Laut ihr war das keine bloss poetische Vorliebe (was ja vollkommen legitim gewesen wäre), sondern ein klares Unterscheidungsmerkmal „wahrer“ Hexen.


Ihre Begründung? Der Mond sei schliesslich nur im Deutschen männlich – in allen anderen Sprachen nicht. Und während es stimmt, dass der Mond und die Sonne in vielen, so zum Beispiel auch in romanischen Sprachen tatsächlich „vertauschte“ grammatikalische Geschlechter tragen – also la lune (Französisch), la luna (Italienisch/Spanisch) und im Gegenzug le soleil, il sole, el sol – ist das eben keine spirituelle Gesetzmässigkeit, sondern ein linguistisches Detail.


Ich kommentierte – freundlich, wie ich fand –, dass die Mondin zwar bei vielen, insbesondere von Wicca geprägten Hexen beliebt sei, aber eben keine universelle Wahrheit darstelle. Ich persönlich bevorzuge der Mond, und das macht mich nicht weniger zur Hexe. Ihre Antwort war deutlich: Ich lag falsch. Punkt. Und jeder Kommentar, der ihr widersprach wurde ohne Vorwarnung gelöscht. Als ich das Thema später in meinem persönlichen Blog aufgriff und meine Gedanken dazu teilte, flatterten prompt ein paar – sagen wir mal: wenig charmante – Nachrichten von ihr ein. Und es traf nicht nur mich. Auch andere, die meine Sichtweise teilten, wurden gleich mitabgewatscht.


Dieser Moment blieb hängen und damals hatte ich dieses starre, dualistische Bild noch nicht einmal richtig erkannt – geschweige denn hinterfragt. Ich fand es einfach seltsam, dass jemand, die sich selsbt als Hexe bezeichnete, ein solch dogmatisches Weltbild vertrat. Wicca mag vielen von uns einn modernen Zugang zur Sprache für das Heilige Weibliche gegeben haben – aber manchmal hielten Menschen diese Sprache für ein Gesetz. Und das ist der Unterschied. Dogma kann sich in jede Tradition einschleichen – selbst in jene, die sich einst wie Befreiung anfühlten.

Was wäre stattdessn, wenn wir Polarität nicht als männlich gegen weiblich betrachten würden, sondern als Bewegung und Stillstand, Schöpfung und Verfall. Als Energien, nicht Geschlechter?

Heute ist mir noch bewusster: Solche dogmatischen Beharrlichkeiten können enorm schädlich sein. Vor allem für Menschen, deren spirituelle Erfahrung nicht in ein enges Raster von „männlich“ und „weiblich“, von Gott und Göttin, von Mondin und Sonnengott passt. Für trans, nicht-binäre, queere oder schlicht frei denkende Menschen ist diese Art von spirituellem Binarismus nicht nur ausgrenzend – sie kann zutiefst verletzend sein. Un hier geht es am Ende nicht nur um Wortklauberei. Es geht um eine Neudefinition dessen, was es bedeutet, Magie so zu praktizieren, dass sie wirklich alle Körper, Identitäten und Ausdrucksformen einschliesst. Und genau das geschieht – sowohl innerhalb als auch ausserhalb von Wicca-Kreisen.


Die Queering des Handwerks

Heute ist die Kunst vieler Hexen queerer – auch im Wicca. Inklusive Hexenzirkel schreiben alte Rituale neu. Einige Traditionen, wie die Reclaiming-Bewegung (entstanden aus feministischem Aktivismus), haben binäre Geschlechterrollen und patriarchalische Systeme schon immer in Frage gestellt. Andere entwickeln sich langsam weiter, erweitern die Definition heiliger Polarität und begrüssen ein breiteres Spektrum an Gottheiten, Archetypen und magischen Modellen.


Für mich persönlich war Wicca nie ein Weg, den ich ernsthaft in Betracht zog – obwohl es allgegenwärtig war, als ich zum ersten Mal den Weg der Hexerei beschritt. Damals, in den 90ern und frühen 2000ern, gab es unzählige Bücher, die von Wicca-Ideen geprägt waren, vom Jahresrad bis zur Anrufung von Göttin und Gott. Und obwohl ich die Rückkehr des Heiligen Weiblichen – etwas, das mir in den vielen anderen religiösen Wegen und Systemen, die ich bis dahin kannte, schmerzlich fehlte – sehr schätzte, fühlte ich mich nie zu starren Hierarchien, Dogmen oder strukturierten Initiationsriten hingezogen.


Aber ich will ehrlich sein: Das duale Weltbild von Mann und Frau hat mich selbst jahrelang geprägt. Ich arbeitete mit diesem Rahmen, nicht weil man es mir sagte, sondern weil er einfach verfügbar war – und weil er eine gewisse symbolische Schönheit in sich trug. Mond und Sonne. Erde und Himmel. Göttin und Gott. Es fühlte sich kraftvoll an … bis es das nicht mehr war. Mit der Zeit, durch Studium, gelebte Erfahrung und viele tiefgründige Gespräche, begann sich mein Verständnis zu verändern. Ich begann, die Gegensätzlichkeit, die ich unbewusst akzeptiert hatte, zu verlernen und erkannte, dass es einen viel umfassenderen, fliessenderen und wahrhaftigeren Weg gab, mit dem Heiligen in Beziehung zu treten. Meine Spiritualität entwickelte sich. Ich entwickelte mich weiter. Und das tue ich noch immer.

Hexerei ist nicht als weiteres System gedacht, das dir sagt, wer du bist. Sie ist ein Spiegel, ein Portal, ein Weg nach Hause – egal, welche Form deine Seele annimmt.

Jetzt sehe ich Hexen, die nichtbinäre Gottheiten anrufen, Transhexen, die Rituale gestalten, die ihren Körper und ihre Magie bekräftigen, queere Hexen, die ihr Handwerk nicht nur als Rebellion, sondern als Zeichen ihrer Zugehörigkeit neu begreifen. Und von meinem Standpunkt aus – ausserhalb der formalen Wicca, aber tief verwurzelt im weiteren Netz der Hexerei – fühlt sich das lebendig an. Notwendig. Kraftvoll. Es geht nicht darum, Traditionen über Bord zu werfen. Es geht darum, sie in etwas zu verwandeln, das die Wahrheit darüber widerspiegelt, wer wir sind – chaotisch, heilig, komplex und herrlich vielfältig.


Wicca und die Frage der kulturellen Anleihe

Als Wicca von seinen Wurzeln Mitte des 20. Jahrhunderts zu einem globalen Phänomen heranwuchs, nahm es Einflüsse aus vielen spirituellen Traditionen auf – manche offen, andere weniger. Elemente wie Räuchern, Chakren oder bestimmte Meditationstechniken waren ursprünglich nicht Teil des Gardnerianischen oder Alexandrinischen Rahmens, fanden aber durch eklektische Erweiterungen ihren Weg in die moderne Wicca-Praxis.


Diese Vermischung ist nicht grundsätzlich problematisch; spirituelle Wege entwickeln sich auf natürliche Weise weiter und leihen sich neue Impulse. Kompliziert wird es jedoch, wenn heilige Praktiken indigener, afrikanischer oder östlicher Kulturen aus dem Kontext gerissen, ihrer Bedeutung beraubt oder respektlos angewendet werden.

Innerhalb der Wicca-Gemeinschaft – wie auch in der gesamten Hexerei-Welt – wächst das Bewusstsein, dass kulturelle Anleihen mit Vorsicht zu geniessen sind.

Für mich bedeutete dies, zwischen echter Resonanz und unbewusstem Anspruchsdenken zu unterscheiden. Es führte zu einer tiefer verwurzelten Praxis, die Herkunft, Abstammung und kulturelle Grenzen achtet. Und es eröffnete eine breitere Diskussion darüber, wie wir alle Magie mit Respekt und Demut praktizieren können.

Rebellion ohne Reflexion läuft Gefahr, zur Wiederinszenierung zu werden. Wenn wir andere Kulturen aus ästhetischen Gründen entlarven, hören wir auf, Hexen zu sein – und werden zu Touristen.

Es geht nicht um Schuld, sondern um Wachstum. Viele moderne Hexen – mich eingeschlossen – setzen sich mit diesem Erbe bewusst auseinander, stellen kritische Fragen und geben marginalisierten Stimmen in unseren Gemeinschaften Raum.


Abschliessende Gedanken: Ein lebendiges, atmendes Handwerk

Wicca ist wie jede spirituelle Tradition nicht statisch. Es ist lebendig – geprägt von denen, die es praktizieren, hinterfragen und weitertragen. Für manche ist es ein heiliges Zuhause. Für andere ein Sprungbrett. Und für viele von uns ist es Lehrer und Spiegel zugleich – es spiegelt wider, woher wir kommen und wie weit wir uns entwickelt haben.


Ich bin nie Wicca geworden. Aber Wicca war Teil meiner Reise. Es eröffnete mir die Möglichkeit, dass Magie real, Göttlichkeit weiblich und Rituale revolutionär sein können. Es lehrte mich auch, was ich nicht brauchte: Dogma, Dualismus, Hierarchie. Und vielleicht ist das das grösste Geschenk, das eine Tradition machen kann – nicht um uns zu formen, sondern um uns zu helfen, uns selbst zu formen.

Wir müssen nicht in eine Form passen, um Wunder zu vollbringen. Wir sind diejenigen, die neue Massstäbe setzen. Wir dürfen uns weiterentwickeln. So ist es auch mit unserem Handwerk.

Moderne Wicca ist nicht der endgültige Zauber – aber sie könnte immer noch ein Funke sein. Wenn du am Rande deines eigenen Weges stehst, sei dir bewusst: Du kannst Traditionen ehren und sie hinterfragen. Du kannst Rituale lieben und sie neu schreiben. Du kannst eine Hexe sein, ohne Etiketten zu tragen, und spirituell, ohne ein Drehbuch zu haben. Das ist für mich die wahre Magie.


Kommentare


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Hallo, danke fürs Vorbeischauen!

Ich bin Nicole – urban aus Überzeugung, mystisch von Natur aus. Ich liebe schwarze Katzen, guten Chai oder Matcha und Gespräche, die spät am Abend anfangen und mit plötzlichen Erleuchtungen enden. Irgendwo zwischen Excel-Tabellen und Zauberkarten habe ich meine Berufung gefunden: Menschen zu helfen, das Chaos, die Magie und selbst die Montage zu verstehen.

Dies hier ist mein Kessel – ein Ort, an dem modernes Leben auf moderne Mystik trifft, gewürzt mit Neugier, einer Prise Rebellion und einer ordentlichen Portion Herz. Mach es dir gemütlich, gönn dir etwas Warmes zu trinken, und lass uns gemeinsam entdecken, welche Magie sich in unserem Alltag versteckt.

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