Jenseits der urbanen Mystik: Eine Tour durch naturverbundene Spiritualitäten
- Nicole

- 24. Juli
- 7 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 8. Okt.
Was fällt dir so dazu ein, wenn du an den Begriff Heidentum denkst?
Ein Lagerfeuer im Vollmond? Eine Hexe ganz in Schwarz? Druiden mit Stäben oder Göttinnen mit wallendem Haar? Oder vielleicht bist du dir gar nicht so sicher, was es ist – ausser, dass es alt, mystisch und vielleicht ein wenig rebellisch wirkt. Manche zaubert das Wort „heidnisch“ Bilder von Natur, Ritualen und Magie ins Gedächtnis. Anderen löst es vielleicht Unbehagen aus. Teufelsanbetung? Gefährliche Kulte? Etwas Dunkles und Verbotenes?
Lass uns das gleich klarstellen: Heidentum hat nichts mit Satanismus oder dem „Bösen“ zu tun. Tatsächlich geht es oft darum, die Natur, Zyklen, Vorfahren und die Gemeinschaft zu ehren – mit tiefem Respekt und Sorgfalt.
Modernes Heidentum mag manchen ungewohnt erscheinen, doch im Kern ist es eine spirituelle Rückkehr zur Beziehung – zur Erde, zur Geschichte, zu etwas Heiligem, das jenseits von Institutionen und Dogmen lebt. Fangen wir damit an. Denn Heidentum in der modernen Welt ist weniger Ästhetik als vielmehr Orientierung – eine Weltanschauung, die das Heilige in der Natur sieht, Zyklen ehrt und Verbundenheit statt Kontrolle sucht. Und obwohl es von vorchristlichen Glaubenssystemen inspiriert sein mag, geht es im modernen Heidentum nicht darum, die Vergangenheit wiederzubeleben . Es geht darum, Altes in die Gegenwart zu integrieren – und Raum für etwas Lebendiges, sich Entwickelndes und zutiefst Persönliches zu schaffen.
Stell dir das Heidentum als einen Schirm vor – und unter diesem Schirm gibt es viele, viele Wege.
Manche Menschen beten. Manche nicht. Manche sprechen Zaubersprüche, manche zünden Kerzen an, manche trommeln unter freiem Himmel. Manche gehen auf Festivals, manche üben allein in ihrer Küche zwischen E-Mails und Kinderbetreuung. Es gibt kein einheitliches Dogma, keine zentrale Schrift, keinen einzig richtigen Weg.
Und das ist ein Teil der Schönheit.

Eine kurze (und ehrliche) Geschichte
Das Wort heidnisch geht ursprünglich auf das althochdeutsche heidi („Heide, unbebautes Land“) zurück und bezeichnete jemanden, der „ausserhalb“ der christlichen Gemeinschaft lebte – sinnbildlich also einen Menschen „von der Heide“. Das lateinische paganus hingegen bedeutete zunächst „Landbewohner“ oder „Zivilist“ und wurde von frühen Christ:innen für diejenigen verwendet, die an den alten, meist polytheistischen Religionen festhielten. Mit der Zeit wurden beide Begriffe – pagan und heidnisch – zu Sammelbezeichnungen für alles Nichtchristliche, oft begleitet von Misstrauen oder Herablassung.
Doch die heute als heidnisch bezeichneten Traditionen waren keine einheitliche Religion. Sie waren ein Mosaik spiritueller Systeme – in ihren Regionen heimisch, in das tägliche Leben verwoben und ehrten Land, Vorfahren und lokale Gottheiten. Von den Kelten und Germanen bis hin zu den Griechen, Ägyptern und Babyloniern war das „heidnische“ Leben vielfältig, fliessend und oft tief in den Zyklen der Erde verwurzelt.
Als sich das Christentum in Europa ausbreitete, wurden viele dieser Traditionen unterdrückt, dämonisiert oder absorbiert. Heilige Haine wurden abgeholzt, Göttinnen im besten Fall zu Heiligen degradiert im schlechtesten Fall zu Dämonen umgestaltet und Feste mit neuen Namen versehen.
Im 19. und 20. Jahrhundert begann sich etwas zu regen. Gelehrte, spirituelle Sucher und Rebellen begannen, die Verbindung mit der Natur, dem Göttlich-Weiblichen und der Weisheit der Vorfahren neu zu definieren. Daraus entstand das moderne Heidentum – je nach Kontext auch als zeitgenössisches Heidentum, Neopaganismus oder einfach als „The Craft“ bezeichnet.
Das heutige Heidentum ist keine Neuinszenierung historischer Ereignisse. Es ist eine lebendige Wiederbelebung – geprägt von modernen Werten, Identitäten und Bedürfnissen.
Das moderne Heidentum ist keine Zeitkapsel
Dies ist ein entscheidender Punkt: Moderne heidnische Wege sind keine eingefrorenen Replikate alter Religionen . Sie mögen zwar auf historischen Quellen, Mythen, Ritualen und archäologischen Funden basieren, werden aber heute von Menschen mit Smartphones, Traumata, Neurodivergenz, Queerness und feministischer Politik gelebt .
Und anders als viele organisierte Religionen, die sich noch heute auf vor Jahrhunderten verfasste heilige Texte stützen, folgen die meisten heidnischen Wege keiner festen Schrift. Dadurch können sich die Traditionen weiterentwickeln – sie wachsen mit der Kultur, anstatt an zum Teil unzeitgemässe Regeln gebunden zu sein.
Während das antike Heidentum – zumindest in Teilen – patriarchale Strukturen und soziale Hierarchien kannte, präsentiert sich das moderne Heidentum heute weitaus integrativer, flexibler und ethisch bewusster. Viele seiner Strömungen positionieren sich ausdrücklich gegen Rassismus, Sexismus und Fundamentalismus. Es gibt Raum für Queerness. Raum für Zweifel. Raum für dich – und für eine Praxis, die sich stimmig anfühlt, statt nur übernommen zu sein.
Kurz gesagt: Im heutigen Heidentum geht es nicht darum, zurückzublicken. Es geht darum , hier tiefe Wurzeln zu schlagen und nach vorne zu blühen.
Eine Tour durch die vielen Pfade unter dem heidnischen Dach
Schauen wir uns einige der bekanntesten Traditionen an, die unter den Begriff der heidnischen und naturverbundenen Spiritualität fallen. Dies ist keine vollständige Liste, sondern eher eine Auswahl, die die Vielfalt und den Reichtum moderner Praktiken zeigt:
Wicca (seprarater Artikel)
Eine moderne Hexenreligion, die in den 1950er Jahren gegründet wurde. Sie verehrt eine Göttin und einen Gott, feiert das Jahresrad und nutzt Rituale und Magie. Manche Wiccans schliessen sich Zirkeln an, andere praktizieren allein. Einer der bekanntesten heidnischen Wege, aber nicht gleichbedeutend mit Hexerei.
Druidentum
Inspiriert von der alten keltischen Spiritualität ehren moderne Druiden die Natur, Poesie, Vorfahren und den Wechsel der Jahreszeiten. Das Druidentum ist heute oft philosophisch, animistisch und umweltbewusst.
Heidentum / Nordisches Heidentum
Eine Wiederbelebung der vorchristlichen spirituellen Traditionen Skandinaviens und Nordeuropas, die sich um Götter wie Odin, Freyja und Thor dreht. Zu den Bräuchen gehören Ahnenverehrung, Runen und Blot (rituelle Feste). Manche folgen historisch fundierten Praktiken, andere einem eher intuitiven Weg.
Hellenischer Polytheismus (Hellenismus)
Wiederverbindung mit den antiken griechischen Göttern – wie Hekate, Apollo oder Dionysos – durch Mythen, Rituale und philosophische Ethik. Praktizierende feiern oft antike Feste und entwickeln eine hingebungsvolle Beziehung zu bestimmten Gottheiten.
Römische Renaissance (Religio Romana)
Ähnlich dem Hellenismus, jedoch mit Fokus auf den Göttern, Werten und Ritualen des antiken Roms. Einige Anhänger legen Wert auf historische Genauigkeit, während andere römische Elemente mit anderen Traditionen vermischen.
Slawisches Heidentum (Rodnovery / Rodzimowierstwo)
Basiert auf dem indigenen Glauben slawischer Völker und verehrt Gottheiten wie Perun, Mokosh und Veles. Die Traditionen variieren je nach Region stark und erleben in Teilen Osteuropas eine kulturelle Renaissance.
Keltischer Rekonstruktionismus
Ein Weg, der der Wiederbelebung der vorchristlichen Traditionen der keltischen Völker (Irland, Schottland, Wales, Bretagne usw.) mit historischer Genauigkeit und kulturellem Respekt gewidmet ist. Oftmals beinhaltet er Opfergaben, landbasierte Rituale und einen starken Fokus auf die Abstammung.
Kemetismus (Modernes ägyptisches Heidentum)
Eine Wiederbelebung der spirituellen Praktiken des alten Ägyptens, bei der Götter wie Isis, Osiris, Thoth und Bast verehrt werden. Zu den Praktiken gehören Opfergaben, tägliche Andachten (Senut) und die Ausrichtung auf Ma’at – das Prinzip von Gleichgewicht und Wahrheit.
Animismus
Keine einzelne Religion, sondern eine Weltanschauung, die in vielen Kulturen zu finden ist – der Glaube, dass alle Dinge (Pflanzen, Tiere, Flüsse, Steine) lebendig sind und einen Geist besitzen. Viele heutige heidnische Pfade sind im Kern zutiefst animistisch geprägt.
Eklektische Hexenkunst
Ein flexibler, individueller Weg, der Elemente aus verschiedenen Traditionen, Praktiken und Symbolsystemen kombiniert. Eklektische Hexen stellen sich Rituale, Gottheiten und magische Techniken oft intuitiv und nach persönlicher Resonanz zusammen – mit einem Fokus auf Ethik und Selbstermächtigung.
Reclaiming-Tradition
Eine feministische, politisch engagierte Form der Hexenkunst, die in den 1970er-Jahren von Starhawk begründet wurde. Im Zentrum stehen soziale Gerechtigkeit, persönliche Heilung und magischer Aktivismus. Rituale sind häufig gemeinschaftlich, improvisiert und queer-affirmativ.
Animistisches Christentum / Christlicher Paganismus
Manche Menschen integrieren heidnische Elemente (Naturverehrung, Göttinnenbilder, jahreszeitliche Rituale) in einen mystischen oder liberalen christlichen Rahmen. Oft wird dabei versucht, unterdrückte, erdverbundene Aspekte des frühen Christentums oder der Gnosis wiederzuentdecken.
Moment mal – und was ist mit Hexenkunst?
Vielleicht fragst du dich: Wo ist Hexenkunst auf dieser Liste? Der Grund ist: Hexenkunst ist keine Religion – sondern eine Praxis. Im Kern ist sie ein Set an magischen, intuitiven und rituellen Techniken, mit denen Energien beeinflusst oder mit ihnen in Einklang gebracht werden – oft durch Kräuter, Zauber, Orakelmethoden, Kerzen, Mondzyklen und mehr. Sie kann spirituell sein, muss aber keinen Glauben an Götter oder Gottheiten beinhalten.
Eine Hexe kann sein:
Wicca
Ein:e Druide:in
Nordisch-heidnisch
Eklektisch-pagan
Christ:in
Jüdisch
Atheistisch
Oder ganz ohne religiöse Zugehörigkeit
Deshalb findet sich Hexenkunst in vielen heidnischen (und auch nicht-heidnischen) Wegen – als Werkzeug, Ausdruck oder tief persönliche rituelle Sprache. Aber sie ist keine eigenständige Religion.
Respekt vs. Aneignung
Hier wird’s heikel: Wenn du spirituelle Wege erkundest – besonders solche, die nicht aus deinem eigenen kulturellen Hintergrund stammen – ist es entscheidend, zwischen Inspiration und kultureller Aneignung zu unterscheiden.
Inspiration fragt: Was kann ich lernen?
Aneignung fragt: Was kann ich mir nehmen?
Erdverbundene Spiritualität ist keine Ästhetik, kein Kostüm, kein „Vibe“. Sie dreht sich um Beziehungen. Zur Erde, zu den Ahn:innen, zu Geschichten, zum Mysterium. Und wie jede Beziehung braucht sie Zeit, Respekt und Zuhören. Du musst nicht perfekt sein. Du musst nicht alles wissen. Aber du musst mit Integrität da sein.
Was machenHeiden eigentlich so den ganzen spirituellen Alltag lang?
Es gibt keine Einheitsantwort. Aber hier sind ein paar Dinge, die du in einer erdverbundenen Praxis finden könntest:
Die Jahreszeiten mit kleinen Ritualen, Altären oder Festen ehren.
Mit Kräutern, Mondphasen oder Energiezyklen arbeiten.
Kerzen für Gottheiten, Geister oder Intentionen entzünden.
Orakelpraktiken nutzen (z. B. Tarot, Runen oder Pendel).
Tagebuch schreiben, meditieren oder barfuss laufen, um dich zu erden.
Mythen, Symbole und Archetypen erforschen.
Ahn:innenaltäre pflegen oder Familiengeschichten würdigen.
Sowohl das heilige Weibliche als auch das wilde Göttliche in all seinen Formen umarmen.
Und oft? Einfach still und leise im Einklang mit den eigenen Werten, der Intuition und der Erde leben.
Zum Schluss: Heilig bedeutet nicht veraltet
Wenn du neu in dieser Welt bist: Willkommen. Du musst deine Götter nicht alle kennen oder sämtliche Entsprechungen auswendig lernen. Du brauchst keinen Umhang (ausser du willst einen). Du musst nicht „hexisch“ aussehen, im Wald leben oder die moderne Welt ablehnen.
Du musst einfach zuhören. Deinem Atem. Dem Wind. Dem Wissen in dir, das vielleicht – nur vielleicht – sagt: Das Heilige ist nicht nur im Himmel. Es ist in der Erde, den Knochen, dem Feuer und im chaotischen, magischen Jetzt. Paganismus bedeutet nicht, so zu tun, als lebten wir in der Vergangenheit. Es bedeutet, zu erinnern, dass die Erde schon immer heilig war. Und dass wir zu ihr gehören.









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